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Konferenz „Erinnern, um nicht zu vergessen?“

Thema: Rede

Mittwoch, 17. Januar 2024

In ihrer Rede bei der Konferenz des Zentralrats der Juden betonte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei. „Dazu gehört ein Erinnern in die Gegenwart und in die Zukunft. Wir fühlen uns diesem Auftrag verpflichtet", unterstrich sie. Roth kündigte daher auch an, dass sich das Konzept für die Fortentwicklung der Gedenkstättenkonzeption an diesem Auftrag orientieren werde. Zugleich wolle sie eine Erinnerungspolitik, die der Realität der Einwanderungsgesellschaft gerecht werde, aber auch heutige Formen von Antisemitismus sowie rechtsextremistische, rassistische Terrorattentate in die Erinnerungskultur mit einbeziehe. Bei der Tagung ging es um Erinnerungskultur und Gedenkpolitik in einer pluralen Gesellschaft.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth steht am Rednerpult bei der Konferenz „Erinnern, um nicht zu vergessen?" des Zentraltrats der Juden

„Wir müssen und wir wollen mit Israel solidarisch sein und jüdisches Leben in unserem Land schützen und stärken", sagte Kulturstaatsministerin Roth bei der Konferenz „Erinnern, um nicht zu vergessen?", zu der Zentraltrat der Juden in Berlin eingeladen hatte.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Einladung und für die Gelegenheit, hier einige Worte sagen zu können. Vor allem aber danke ich Ihnen für die Organisation dieser Konferenz. Die Leitfrage, mit der Sie sich beschäftigen, wie wir unter gegenwärtigen Bedingungen eine nachhaltige Erinnerungskultur entwickeln können, in der sich die unterschiedlichen Perspektiven unserer Gesellschaft wiederfinden, ist von sehr großer Bedeutung – das brauchen wir heute. Sie beleuchten und diskutieren dabei genau die Fragen, die sich dazu in unseren Zeiten stellen: Von der Frage der Erinnerungspolitik in der Einwanderungsgesellschaft über die Herausforderungen wie auch die Chancen der Digitalisierung bis hin zur Rolle und Bedeutung der Shoah in Kunst und Kultur. Die Ergebnisse Ihrer Diskussionen zu diesen Themen werde ich mir, werden wir uns genau anschauen.

Heute, wo ich hier zu Ihnen spreche stehe ich noch ganz unter dem Eindruck meiner Begegnung mit Vertretern der jüdischen Gemeinde von Venedig in der letzten Woche, wo ich anlässlich des Besuches der deutschen Kultureinrichtungen in Italien war. Dort, in dem ersten „Ghetto“ – der Begriff stammt bekanntlich aus dem Venedig des 16. Jahrhunderts – hatte sich eine jüdische Gemeinschaft gebildet, aus Jüdinnen und Juden aus deutschen Regionen, aus Spanien und Portugal wie aus dem levantinischen Raum. Es war sehr spannend zu erfahren, was diese große Unterschiedlichkeit und Pluralität für den Alltag und das Zusammenleben dort bedeutet hat – bis hin zum Kulinarischen. Gänseschmalz, eine Folge des deutschen Einflusses, gilt dort bis heute, mitten im norditalienischen Venedig, als besondere Spezialität. Berührend war aber besonders, was ich bei dem Gedenken an die von den deutschen Besatzern deportierten und anschließend ermordeten Jüdinnen und Juden dort, als Vertreterin der Bundesregierung erlebt habe: Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dario Calimani, war tief berührt darüber, dass, wie er meinte, erstmals ein Mitglied der deutschen Bundesregierung mit klaren Worten an diesem Ort an die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland an den Menschen der jüdischen Gemeinde in Venedig erinnerte. Das hat mich sehr beschämt. Umso mehr, als es für ihn bis heute emotional sehr schwierig sei, mit Deutschland und Deutschen zu tun zu haben. Dario Calimani traf im „Ghetto“ junge Deutsche, Studierende in Venedig. Diese waren, als sie davon erfahren haben, dass Stolpersteine beschmutzt worden waren, spontan mit einer ganzen Gruppe gekommen und hatten sie gesäubert. Dass junge Deutsche das heute tun, war für Dario Calimani ein starkes und wichtiges Signal. Er hat sie eingeladen, mit ihm jetzt an einem erinnerungskulturellen Projekt zu arbeiten.

Warum erzähle ich Ihnen das? Weil dort wie in vielen Gesprächen, die ich in den letzten Monaten und Jahren geführt habe, nicht zuletzt auch mit Überlebenden der Shoah, wie Margot Friedländer oder Herbert Traube, dem ich beim gemeinsamen Erinnern an die Pogromnacht vom 9. November in Paris im Memorial de la Shoah mit der französischen Kulturministerin begegnet bin, immer wieder sehr deutlich geworden ist: Die Erinnerung an die Shoah lebt, sie ist lebendig – und muss auch heute unbedingt sehr lebendig gehalten werden. So lebendig, dass junge Menschen aus unserem Land, die in Venedig studieren, sich spontan aufmachen, um beschmutze Stolpersteine zu säubern. Und das vor dem Hintergrund, dass es immer weniger Zeitzeugen gibt, die diese Erinnerung mit dem eigenen Erleben deutlich machen können.

Die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur gilt noch viel mehr seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023, dem schwärzesten Tag in der Geschichte Israels und der jüdischen Geschichte seit der Shoah. Ein einziger Tag des Hasses und der Gewalt. Ein Tag des Mordens, der Zerstörung, ein Tag hundertfacher Vergewaltigungen und Geiselnahmen, ein Grauen, das für viele der Opfer, ihre Familien und Freunde noch immer andauert. Unsägliches Leid, das nicht durch einen Schicksalsschlag, sondern ganz bewusst und ganz gezielt verursacht wurde und noch wird. Denn Terror ist ja nicht nur besinnungsloser Blutrausch. Er ist immer auch planvolles Vorgehen. Zum Kalkül der Hamas gehörten der Tod und das Leid jüdischer Frauen, Kinder und Männer. Angst und Schrecken zu verbreiten, ist die Absicht des Terrors. Er handelt mit den Bildern des Grauens, sie sind seine Ware. Damit mit hoher journalistischer Sorgfalt umzugehen, ist eine Herausforderung wie Verpflichtung für die Medien in unserem Land und in Europa – wenn ich mir diese Bemerkung in meiner Rolle als Medienstaatsministerin erlauben darf.

Dieser Tag ist nicht nur eine weitere Wegmarke für die Frage, dass Jüdinnen und Juden sicher in einem eigenen Staat leben können, dessen Existenz nicht in Frage gestellt wird. Er ist ebenso ein deutsches und ein europäisches Datum, eben weil er an die Traumata der Vergangenheit rührt. Auch deshalb verurteile ich zutiefst, was danach passierte, weltweit, aber vor allem auch in Deutschland. Die Mehrheit in unserem Land, auch viele in der deutschen Kulturszene, stand abseits und schwieg. Welche Gründe wir auch vorbringen für dieses Schweigen zum Terror der Hamas, ich finde keine Erklärung dafür. Vielleicht ist es fehlende Zivilcourage, vielleicht aber auch mangelnde Empathie mit den Jüdinnen und Juden in unserem Land. Vielmehr bin ich fassungslos über feiernde Hamas-Anhänger auf den Straßen deutscher Städte, über immer mehr antisemitische Angriffe und Straftaten auch bei uns, Angriffe auf Synagogen, wie hier in Berlin auf die Synagoge in der Brunnenstraße. Vor diesem Hintergrund frage ich mich: Was haben wir falsch gemacht, wenn wir Muster der Vergangenheit in der Gegenwart nicht erkennen können und verkennen, dass „nie wieder“ ein Auftrag für die Zukunft war und damit so gegenwärtig ist wie nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte?

„Nie wieder ist jetzt“ heißt es zu Recht und daraus resultiert ein Handlungsauftrag für uns alle, Politik wie Zivilgesellschaft, für jede und jeden. Wir dürfen nicht Schweigen, wir müssen Haltung zeigen, klar und unmissverständlich, wir müssen und wir wollen mit Israel solidarisch sein und jüdisches Leben in unserem Land schützen und stärken. Und natürlich müssen wir auch unschuldigen zivilen Opfern im Gazastreifen helfen und deutlich machen, wer ursächlich für dieses Leid verantwortlich ist und wie perfide noch immer die Hamas die Zivilbevölkerung im Gazastreifen als vermeintliche Schutzschilde für die eigenen Terrortaten missbraucht.

Bei diesem Vorgehen, bei diesem Kampf gegen den erschreckenden Ausbruch von Antisemitismus in unserem Land ist auch der Kulturbereich gefordert. Das ist, wie Sie wissen, ein wichtiges, ein zentrales Anliegen für mich, nicht erst seit dem 7. Oktober. Deshalb unterstützt mein Haus die bundesgeförderten Einrichtungen dabei, dazu codes of conduct zu entwickeln. Sie sind in dieser Frage auf einem guten Weg. Mein Kollege Joe Chialo hat für das Land Berlin nun eine Antisemitismusklausel vorgeschlagen. Das politische Anliegen meines Kollegen teile ich – allerdings sehe ich es wie etwa auch mein Kollege aus Bayern und die Kollegin aus Nordrhein-Westfalen: Wir sollten da zwischen Bund und Ländern über ein gemeinsames Vorgehen beraten, über die Frage einheitlicher Vorgaben in unserem vom Kulturföderalismus geprägten Land. Ein Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen wäre dem gemeinsamen Anliegen hier nicht dienlich. Deshalb suche ich dazu nun mit den Kolleginnen und Kollegen in den Ländern das Gespräch, wie auch mit Akteurinnen und Akteuren des Kulturbereichs. Wir müssen diskutieren, was verfassungs- und verwaltungsrechtlich sinnvoll und was politisch geboten ist.

Der 7. Oktober und die sehr besorgniserregende Zunahme antisemitischer Taten verdeutlichen in drastischer Weise die Notwendigkeit, unsere Erinnerungskultur fortzuentwickeln, um die ganze heutige Gesellschaft in Ihrer Vielfalt wirkungsvoll zu erreichen, und das unter den Bedingungen der digitalisierten Gesellschaft – und dabei auch alle heutigen Formen von Antisemitismus mit einzubeziehen.

Wie Sie wissen, erarbeitet mein Haus gerade ein Konzept für eine Fortentwicklung der Gedenkstättenkonzeption. Das einzigartige und unvergleichliche Menschheitsverbrechen der Shoah, geplant nicht weit von hier, begangen im und vom nationalsozialistischen Deutschland, bleibt dabei Kern unserer Erinnerungskultur. Unser freiheitlich demokratisches Selbstverständnis fußt auf der Aufarbeitung und Erinnerung an die Massenverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Die Arbeit an der Erinnerung an die Shoah ist für eine demokratische Gesellschaft zugleich Auftrag, sich gegen Ausschlussmechanismen, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu wehren und das „Nie wieder“ permanent in seiner großen Aktualität deutlich zu machen. Die aus der Shoah resultierende Verantwortung obliegt allen in unserer Gesellschaft lebenden Menschen, ganz gleich, ob sie hier geboren, oder zugewandert sind. Auch zugewanderte Menschen müssen deshalb als Zielgruppe und Akteure in das Rahmenkonzept einbezogen werden. Wir wollen eine Erinnerungspolitik, die der Realität unserer Einwanderungsgesellschaft gerecht wird, die verbindend ist und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärkt. Dazu gehört zum einen, dass wir die Geschichte und die Geschichten der Menschen, die zu uns gekommen sind – dazu gehören auch viele jüdische Zuwanderer und Zuwanderinnen aus Russland, Belarus und der Ukraine –wahrnehmen und beleuchten, dass diese Migrationsgeschichten auch zu einem Teil unserer Erinnerungspolitik werden. Dazu gehört aber ebenso, dass für alle Menschen, die in unser Land gekommen sind, die bei uns leben, die Geschichte des Menschheitsverbrechens der Shoah auch Teil ihrer Geschichte ist, dass daraus auch für sie, für uns alle gemeinsam eine besondere Verantwortung erwächst. Zugleich müssen wir heutige Formen von Antisemitismus stärker in den Blick nehmen und antisemitische sowie rechtsextremistische, rassistische Terrorattentate in unsere Erinnerungskultur mit einbeziehen.

Dieses Konzept soll zugleich Anstöße formulieren, wie die Bundesrepublik Deutschland ihre Erinnerungsarbeit auch und noch stärker als bisher als Teil eines europäischen Versöhnungsprozesses begreift. Während die Erinnerung an die deutsch-französische Aussöhnung mittlerweile in den Kanon der Erinnerungskultur aufgenommen ist, so ist mit Blick insbesondere auf Polen, aber auch auf andere Länder Mittel- und Osteuropas noch viel an Erinnerungsarbeit zu leisten. Das gilt auch für Griechenland und Italien. Stellvertretend für diese Notwendigkeiten stehen auf Bundesebene die Vorhaben des Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und des „Deutsch-Polnischen Hauses“.

Unser freiheitlich demokratisches Selbstverständnis fußt auf dem demokratischen Gegenentwurf zum NS-Staat. Demokratie ist aber keine Selbstverständlichkeit. Sie ist nicht immun. Sie wird angegriffen von Demokratiefeinden und Rechtsstaatsverächtern. Wir müssen uns der Demokratie deshalb verpflichtet fühlen. Und dazu gehört die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Dazu gehört ein Erinnern in die Gegenwart und in die Zukunft. Wir fühlen uns diesem Auftrag verpflichtet. Ich fühle mich ihm verpflichtet. An ihm wird sich das Rahmenkonzept Erinnerungskultur orientieren, das mein Haus erarbeitet und in einem weitgefassten Beteiligungsprozess mit den gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, besonders aber mit Ihnen, mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, besprechen wird. Darauf freue ich mich.

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